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  Zwischenstation
Der Titel ist treffend gewählt. Nüchtern und lakonisch im ersten Augenblick, vieldeutig und poetisch beim näheren Hinschauen. Zu entdecken ist ein Ruhepunkt in einer Reise durch Raum und Zeit. Doch Ruhe bedeutet nicht Stillstand, sondern Atemholen. Balance, wenn es sie gibt, ist eher eine Empfindung als ein Zustand.
Der Ort: ein ehemaliges Transitkreuz im Berliner Ring- und Stadtbahn-System. Ein historisches Bauwerk, das als Hülle zurückblieb und mit neuen Bestimmungen einen Wandlungsprozeß erlebt. Eine Verkehrsarchitektur, deren einstige Innen- und Außenbezüge nicht mehr miteinander verflochten sind. Ein Stadtraum, dessen heterogene Fragmente von Stadtgeschichte und Deformationen zeugen.
Die Kunst: ein Versuch, Vergangenes zu evozieren. Nicht als Rekonstruktion, nicht als Bühnenbild, sondern als gegenwartsbezogene und höchst subjektive Annäherung an die Vitalität des damaligen Bahnhofs und an die Gefühle, Gedanken und Projektionen, die vielleicht einmal mit ihm verbunden waren und die auch heute und morgen in uns anklingen, wenn von Zügen, Ausflug, Aufbruch in die Ferne die Rede ist.

Bei ihrem Ausstellungsprojekt „Zwischenstation“ überrascht uns Susanne Ahner, wie immer, mit neuen Bildeindrücken, Gedankenspielen und Kooperationsformen, in denen wir, wenn wir wollen, auch entdecken können, auf welche Weise sie Motive und Themen früherer Arbeiten aufgenommen und weitergeführt hat. Auf der Hand allerdings liegen diese Bezüge nicht.
So unterschiedlich in ihren Erscheinungsformen sind die zahlreichen Projekte und Werke, die sie seit anderthalb Jahrzehnten geschaffen hat, daß sich eine leichte Wiedererkennbarkeit, die vielzitierte „unverwechselbare künstlerische Handschrift“, beim schnellen Blick nicht einstellen mag.
Zum Glück, denn der rote Faden liegt nicht in der Abwandlung und Auslotung formaler Kompositionen oder in ikonographischen Entsprechungen, sondern im konzeptionellen Ansatz und im Umgang mit dem Raum.
Genauer gesagt: mit den Räumen.
Denn schon ihre frühen plastischen Objekte und Gruppen, die für sich stehen und nicht für spezielle Raumsituationen entworfen wurden, nutzen die Präsentationswände und -flächen zur kalkulierten Kontaktaufnahme mit dem Betrachter, indem sie ihn zur Zwiesprache oder zum Umrunden und Durchqueren ermuntern.
Ihre späteren Arbeiten schließlich sind fast ausnahmslos für besondere Innen- oder Außenräume entwickelt und reflektieren deren besondere Geschichte, Architektur, Atmosphäre, gewissermaßen deren Physiognomie, wenn dieses Wort ausnahmsweise für das „Gesicht“ eines Raumes gebraucht werden darf.
Susanne Ahner hat hierfür den Begriff „Raumarbeit“ gewählt, hat auch einmal von „Raumbefragung“ gesprochen. In einen „Denkraum“, sagte Michael Glasmeier, verwandelte sich mit dem Projekt „Achsen der Begehrlichkeit“ der alte Ausstellungs-, später Atelierraum der Preußischen Akademie der Künste am Pariser Platz.

Keine bloßen Raumgestaltungen also – obwohl „Gestaltung“ im universellen Sinn sehr viel mit dem Wechselverhältnis von Form und Inhalt zu tun hat – keine ästhetischen Akzentuierungen, keine artifiziellen Gegenwelten.
Es geht um Eingriffe und Verwandlungen, die den Ort mit seinen besonderen Eigenschaften analysieren, ihn interpretieren und dabei immer neu die Frage nach Formen, Möglichkeiten und Grenzen von Wahrnehmung stellen. Dabei reicht die Spannweite von sparsamen, punktuellen Eingriffen als zunächst kaum merkliche Irritationen bis zur radikalen Umgestaltung und Verfremdung.

Die dramatischste von allen, dem Aufruhr der gerade hautnah erlebten Ost-West-Übergangssituation entsprechend, war wohl 1991 die Rauminstallation „be - treten / mit - halten“ in der Galerie der Berliner Festspiele, mit Karla Sachse in der Reihe „Konvergenzen“ realisiert.
Der nüchterne, geometrisch klare Fünfziger-Jahre-Saal des Bikini-Hauses wird zur bewegten Szenerie, die den Besucher zum Taumeln bringt, ihn fast den Boden unter den Füßen verlieren läßt.
Der altgewohnte Halt erweist sich als trügerisch. In diesem Environment werden transitorische Momente – gesellschaftliche Spannungen, Verunsicherung des Einzelnen – unmittelbar körperlich erfahren.

Die minimalistisch angelegte Arbeit „Stille Reserve“ hingegen aus dem Jahr 1996 für den kreisrunden Raum des Kunstforums der GrundkreditBank ­ brüskiert die Erwartungen des Besuchers, der anstelle der gewohnten Reihung repräsentativer Gemälde auf ­ winzige Knopf-Fotos in Steckdosenrahmen trifft.
Die Bilderlust wird nur begrenzt befriedigt, im großen Maßstab durch die kaum bemerkbare, die Rundwand schmückende, zunächst als bloße Stromversorgung übersehene Steckdosen-„Borte“, die mit vielen weiteren Raum-Elementen korrespondiert, im kleinen durch die Variationsvielfalt der Knöpfe.
Um so stärker werden jedoch Gedanken und Assoziationen in Gang gesetzt: über den Kunstbetrieb, seine Ritualisierungen, seine Energien, seine oft vergessenen Wurzeln und nicht zuletzt über das Mies van der Rohe zugeschriebene Motto „small is beautiful“.
Und mit dem gerade in Bankwelt und Buchhaltung gebräuchlichen Titel „Stille Reserve“, der auch auf kulturgeschichtliche Zusammenhänge zwischen Knöpfen und Geld verweist, auf die Rolle der Grundkreditbank selbst als manchmal großzügiger, manchmal eher kleinlicher Ausstellungs-Sponsor, der übrigens die Förderung jüngerer, nicht international renommierter Künstler mittlerweile gänzlich eingestellt hat.

Zwei Raumarbeiten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Beim inneren Blick zurück auf sie und die vielen anderen lassen sich einige Aspekte benennen, die Susanne Ahner leitmotivisch, in jeweils anderen Bildern und Bezügen, untersucht und vertieft hat und von denen einige auch in der „Zwischenstation“ im Bahnhof Westend wieder auftauchen.

Ein zentrales Thema: das Transitorische.
Das zeigt sich in der Wahl von Orten und Räumen, die ihre alte Funktion verloren haben, die von Provisorien und Zwischennutzungen geprägt sind, deren Bau- und Nutzungsgeschichte noch physisch erkennbar ist und durch Eingriffe wieder deutlicher sichtbar werden kann.
Auch in der Wahl von Materialien, die nicht zum traditionellen Bildhauer-Repertoire gehören, sondern Teil der Alltagsgeschichte sind. Oft sind es minimal bearbeitete Fundstücke, Industrieprodukte oder persönliche Dinge, fragil und zerstörbar, die ihre Zweckbestimmung schon hinter sich haben. Deren Gebrauchsspuren wiederum gehen als weitere Assoziationsebene in den neuen bildnerischen Kontext ein.

Das Transitorische klingt auch immer wieder an im besonderen Umgang mit der Zeit, mit Vergangenheit, Vergänglichkeit, Erinnerung. Prägend für ihre Arbeit ist der Versuch, Verborgenes, Verschüttetes oder Verlorengegangenes anklingen zu lassen.
Nicht das Zeitlose, nach dem viele Künstler streben und das es vielleicht gar nicht gibt, interessiert Susanne Ahner, sondern die Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart, von Flüchtigkeit und Dauerhaftigkeit als ständiger, unser gesamtes Denken und Fühlen ­ prägender Prozeß, der durch die künstlerische Auseinandersetzung mit Formen der Wahrnehmung und Erinnerung bewußt gemacht werden kann.

Ein weiterer zentraler Aspekt ihrer Arbeit ist ihre Offenheit.
Frei von der Eitelkeit, der Betrachter möge die künstlerische Absicht bis ins Detail verstehen und nachvollziehen, frei von dem Anspruch, die Wahrheit gepachtet zu haben, frei von didaktischen Ambitionen (es sei denn, das „Lernziel“ hieße Verunsicherung) vertraut Susanne Ahner auf die Eigenständigkeit und Reflexionsfähigkeit des Gegenüber.
Je vielfältiger die Assoziationen, je widersprüchlicher die Gedanken und Gefühle, desto besser, denn dies entspricht der gesellschaftlichen Realität und der Beschaffenheit des Individuums.

Die Entscheidung, was die Arbeit „bedeuten“ soll und was „das Wesentliche“ an ihr sei, wird nicht allein von der Künstlerin oder dem Künstler bestimmt, sondern immer neu im geistigen Dialog zwischen Betrachter und Kunstwerk entwickelt. Die Objekte und Installationen sind Angebote, durch die Impulse, vielleicht auch Erkenntnisse freigesetzt werden können; in welcher Weise, in welche Richtung, mit welchen Inhalten, das hängt von den subjektiven Erfahrungen des Einzelnen ab.

Das Bestreben, dem Wesen von Menschen, Dingen und Lebenszusammenhängen nahezukommen, hat Susanne Ahner schon früh zur Abkehr von abbildhaften, speziell von portraitähnlichen Darstellungen motiviert und sie zu einer konsequenten Auseinandersetzung mit Abstraktion und Reduktion getrieben.
Der Verzicht erweist sich als Gewinn, die Verknappung als Bereicherung. Ihre Figuren, Environments und Installationen belegen auf überzeugende Weise, daß Andeutungen, Verschlüsselungen, fragmentarische Konstellationen und leise Töne die Neugier und die Phantasie des Betrachters viel stärker in Gang setzen als gesprächige Vordergründigkeit. Metaphern und Symbole setzt die Künstlerin selten ein, aber dann nicht als bedeutungsschwere Paukenschläge oder penetrante Interpretationsfolien, sondern unterschwellig, wie literarische Umschreibungen oder musikalische Klangfarben.

Susanne Ahners Kunstverständnis weist viele Berührungspunkte mit den Klassikern und mit den aktuellen Protagonisten der Konzeptkunst auf.
Ein wesentlicher Unterschied liegt jedoch in der ästhetischen Qualität der Realisationen.
Nicht mit bloßen Entwürfen, Programmen oder Handlungsanweisungen haben wir es zu tun, sondern mit bildhaften, manchmal geradezu traumartigen Konzepten, deren Umsetzung - sei sie bewußt unvollständig oder als komplexe Gesamtgestaltung angelegt - immer bis ins kleinste Detail durchdacht ist, deren Proportionen und Dramaturgie, Architektur- oder Naturbezüge, Farb- und Materialwirkungen präzise bestimmt und handwerklich höchst professionell ausgeführt sind.

Wichtiges Arbeits- und Rezeptionsprinzip ist der Zufall, nicht aber die Zufälligkeit. Von „poetischer Klarheit“, wie Inken Nowald es einmal für Susanne Ahners frühe Objekte ausdrückte, sind gerade auch die raumgreifenden Environments und Installationen. Darin vor allem liegt ihre Beständigkeit, nicht in der verdinglichten Form oder der Foto-Dokumentation. Nach Ablauf und Abbau bleibt das Wesentliche – was immer es auch war – im Kopf des Betrachters zurück.

Auch die Berliner „Zwischenstation“ im Künstlerbahnhof Westend hält starke Bildeindrücke bereit. Wer einmal im Dunkeln vom aktiven Bahnsteig der S-Bahn auf das ausrangierte Bahnhofsgebäude blickte, wird sich lange an die geheimnisvolle, fast pointillistisch strukturierte Lichtwirkung der postkartenbeklebten großen Fenster erinnern. Und die Räume werden nicht nur weiterhin Stadtgeschichte bergen, sondern den Besuchern der „Zwischenstation“ auch in Zukunft Geschichten erzählen, vom Reisen und von den vielen Sichtweisen der „durchreisenden“ Künstlerkollegen.
Susanne Ahner hat den Ort und das Thema ausgewählt und über ihre eigene Gestaltungsarbeit hinaus als Kuratorin für ihre Künstlerfreunde gewirkt. Für sie selbst ist dieses Projekt eine „Zwischenstation“ zu neuen Vorhaben, in denen sie vielleicht, wie hier, wieder Fäden bisheriger Arbeiten aufnehmen und weiterspinnen wird.

Der Künstlerbahnhof Westend ist eine weitere Etappe ihrer Auseinandersetzung mit Berliner Geschichte und Gegenwart, nach dem „Gedenkzeichen“ in der Kreuzberger Kommandantenstraße zur Erinnerung an das Theater des Jüdischen Kulturbundes, dessen Künstler und Zuschauer in den Konzentrationslagern ermordet wurden, nach der kritischen Kommentierung der nationalsozialistischen Germania-Planung im ehemaligen Arbeitsraum des Generalbauinspektors am Pariser Platz, nach der poetischen Ironisierung der neuen Hauptstadtrolle und ihrer „günstigen Mittelpunktlage“ in einer leerstehenden Spedition im zukünftigen Regierungsviertel - und vor der 1999 anstehenden Realisierung ihres U-Bahn-Projektes „Übergang“, das die Ost-West-Teilung im Stadtraum und in den Köpfen sowie die Hoffnungen und Schwierigkeiten ihrer Überwindung thematisiert. „Zwischenstationen“ auf dem Weg einer Künstlerin, deren zukünftige Haltepunkte mit Sicherheit noch manche Überraschung bereithalten.


Stefanie Endlich. Unveröffentlichtes Manuskript für die Dokumentation der Ausstellung Zwischenstation, Februar 1999

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